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19 Winter 2015 Dieser Umwandlungs(denk)prozess wird von „das Viele für wenige“ zugunsten „weniger für viele“ geleitet und das ist gut so. Mir gefällt der Blick- punkt, dass wir dafür „reich“ ernten werden an Menschen, die kreativ und motiviert sind, die sich bei uns – als Fremde – einbringen, die uns an ihrer Kultur teilhaben lassen und so unsere Welt berei- chern und bunter machen. So war es ja in Wirk- lichkeit schon immer. In der letzten Zeit erlebe ich auffallend oft, wie Menschen spontan auf der Straße mit einigen wenigen Gesten und Handlungen geholfen wird. Die zu Hilfe Eilenden sind ausnahmslos Menschen anderer Herkunft. Haben sie dies schon bemerkt? Mir gefallen in diesem Zusammenhang die Begriffe von den „schon früher Gekommenen“ und den „später Gekommenen“, die ich daher dem Pro- jekt „docken“ entnommen habe. Das ist nämlich genau das, was wir brauchen: Ideen. Neue Ideen zur Gestaltung unserer kleinen und unserer großen Welt. Motivation und Mut. Um anzudocken. Dann müssen wir uns weniger schuldig machen und weniger Verharren in dem gewohnten Wegschauen, dass die anderen da drau- ßen bleiben, imMittelmeer ertrinken, imWüsten­ sand ersticken, chancenlos bleiben, heimatlos oder an der Armutsgrenze leben. Aus-ge-grenzt. Wir erlauben uns EU-weit schon zu wenig Mitge- fühl mit uns selbst, was die erschöpften Menschen unübersehbar belegen. Darauf will ich vertrauen, dass wir grundsätzlich fähig sind, wieder mehr Selbstgefühl und folglich auch Mitgefühl in unsere Welt zu bringen. Wir haben dazu die Mittel in der Hand und es könnte unsere Welt bereichern. Wir leben in einem der reichsten Staaten der Welt. Wir sind materiell bequem ausgestattet, unsere Umwelt ist sauber und reich an Erträgen, Schön- heiten und Natur. Wir können nicht nur die Staats- und Landesgren- zen, sondern besonders unsere Herzensgrenzen, unsere Wertegrenzen und Wohnungstüren öffnen, anstatt rundherum weitere Mauern und Zäune zu errichten, denn sie sind Ausdruck unserer gesamt- gesellschaftlichen Radikalisierung (radikal: radix, die Wurzel, Ursprung). Eine Idee, die nur allzu bekannt ist und mit dem Nationalsozialismus, demMarxismus und mit dem Faschismus bereits ausreichend „erprobt“ wurde. ImWesentlichen ist die Ausrufung des Kalifats (Gründung eines Kali- fenstaates – der Kalif als Stellvertreter Allahs) – in instrumentalisierter und menschenverachtender Missinterpretation des Korans – ebenso ein Ver- such, das vom IS-definierte Radikale zum einzig anerkannten Wert zu erheben. Wenn sich auch die Methoden zur Abschottung drastisch unterschei- den, so fehlt beiden Ideen das Vertrauen auf die Vielfältigkeit des Menschen und dieses wird durch Kontrolle und Ausgrenzung im einfältigen Glauben des Schut- zes ersetzt. Die Dogmen dabei sind meines Erachtens ein Wert „des einzig Richtigen“ in der Vernachlässigung, dass der Mensch grundsätzlich kreativ, vielfältig und besonders ist. Im Gegensatz zu manch anderen Ländern herrscht in Österreich auch Bildungsreich- tum, ein grundsätzliches Prinzip von (Chancen-) Gleichheit nebst ausreichendemWohlstand. Was ich daher nicht verstehe, sind Ausdrücke von Poli- tikern, dass ein Ort nicht mehr als 10, 20, 40, 100… asylsuchende Menschen verträgt. Was „vertragen“ wir nicht? Den Anblick? Die Sprache? Menschen in Not? Unsere Scham? Unsere eigene Angst vor dem/den Fremden? Andere Menschen? Ich denke, wir vertragen uns nicht mit unserer eigenen Angst. Angst, den anderen nicht zu verstehen, etwas hergeben zu müssen, Wohnraum, Reichtum. Was geht hier eigentlich vor? Fast jeder besitzt schon alles, hat mehr Platz zumWohnen als er braucht, kauft Dinge, die er schon hat. Es wäre wohl ehrlicher zu sagen, dass wir uns „gestört“ fühlen. Erst vor 70 Jahren in Europa: Kriegsende 1945. Flüchtlinge, displaced persons, Hunger, Chaos, Zer- störung. Hat man nicht trotzdem darauf vertraut, dass es besser werden kann? Gehört Vertrauen zur Armut? Und zum Reichtum Kontrolle und Sta- cheldrahtzäune? Im Sinne der „Besitzstandswah- rung“? (B. Rothschild). Wir wissen inzwischen, dass „die Grundvorausset- zung konstruktiv mit dem Anderen, dem Fremden umzugehen, […] die Entdeckung der eigenen Fremd- heit“ ist. Es geht dabei um das Erleben der eigenen Ausgegrenztheit, wenn man z.B. verlegen ist und Scham empfindet. Wer dies selbst erfahren hat, wird eher auf Fremde zugehen. „Je stärker abge- schlossen man andererseits lebt und aufwächst, desto mächtiger wird die Zumutung, wenn jemand Fremder kommt“ (B. Rothschild). „Wir können nicht nur die Staats- und Landesgrenzen, sondern besonders unsere Herzensgrenzen, unsere Wer- tegrenzen und Wohnungs- türen öffnen, anstatt rund- herum weitere Mauern und Zäune zu errichten.“ *Heraklit von Ephesus

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